Mit dem Fahrrad durch Deutschland: ONG hilft Immigranten – 29/06/2025 – Welt
Die afghanische Fariha fühlt sich mit 29 Jahren frei wie ein Vogel, wenn sie Fahrrad fährt. Die 61-jährige Irakerin Karima beschreibt ein ähnliches Gefühl: Auf zwei Rädern hat sie das Gefühl zu fliegen. Die 34-jährige Russin Gunaz geht noch weiter: “Fahrradfahren stärkt den Charakter“, sagt sie.
Diese Frauen sind Teil der Gruppe von über 2.500 Frauen, die bereits von der deutschen NGO Bikeygees beigebracht wurden, wie man Fahrrad fährt – ein Name, der die Wörter Bike (Fahrrad) und Refugees (Flüchtlinge) auf Englisch kombiniert. Die Initiative wurde vor zehn Jahren ins Leben gerufen, um migrantischen Frauen in Berlin Autonomie zu geben.
Viele von ihnen kommen aus Ländern, in denen das Radfahren für Frauen verboten oder gesellschaftlich verpönt ist. Wie die Irakerin Shaha, 21, die sich erinnert: „Frauen dürfen nicht nur nicht Fahrrad fahren, es ist auch gefährlich, da die Straßen von Autos überfüllt sind und es keine Fahrradwege gibt.“ In der deutschen Hauptstadt ist dies zum Beispiel kein Problem - Berlin verfügt über ein 2.300 Kilometer langes Radwegenetz, das sich vom Zentrum bis in die Randbezirke erstreckt.
Shahas Fall ist nicht der einzige unter den Frauen, die durch das Projekt Fahrradfahren gelernt haben. Andere, wie die 48-jährige Kenianerin Eunice, hatten nie die Möglichkeit zu lernen. „In Kenia können Frauen und Mädchen Fahrrad fahren, aber als ich ein Kind war, hat mich niemand unterrichtet“, erzählt sie und sagt, dass ihr Traum ist, den Zug zu verlassen und nur noch das Fahrrad zu benutzen.
Die Idee für das Projekt stammt von Annette Krüger, 54. Im Jahr 2015, als Deutschland etwa 1,1 Millionen Flüchtlinge aufnahm – hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan und dem Irak – fühlte sie, dass sie handeln musste. Als Tochter einer deutschen Familie, die vom Exil und den Kriegen geprägt war, entschied sie, dass es an der Zeit war, auf irgendeine Weise etwas zurückzugeben.
Als sie auf Facebook ein Foto einer Immigrantin sah, die mit Hilfe von zwei Deutschen Fahrrad fahren lernte, hatte Krüger die Idee. Sie schickte einer Freundin eine Nachricht und fragte, ob es so etwas in Berlin gab. Das Duo vereinbarte das erste Treffen auf einem Brachgelände neben einem Supermarkt. „Meine Freundin sagte ‚ich weiß nicht, was ich tun soll‘ und ich antwortete: ‚Ich auch nicht‘, aber wir haben es trotzdem versucht.“
Das Debüt war improvisiert. Die beiden gingen in ein Café, in dem Essen an Flüchtlinge verteilt wurde, und begannen zu rufen: „Spaß mit Fahrrädern!“. Viele Kinder kamen herbei. Als sie fragten, ob sie Fahrrad fahren könnten und hörten, dass sie es konnten, schlug Krüger vor: „Dann bringt eure Mütter mit.“
Auch wenn die Sprachbarriere bestand, war die Priorität einfach: Die Schülerinnen durften nicht fallen. „Wir merkten, dass wir keine Worte brauchten. Es reichte aus, festzuhalten und zu lächeln. Ihr Lächeln sagte alles“, sagt sie.
Im Laufe der Zeit ist die Gruppe gewachsen. Heute hat Bikeygees ein kleines Büro im Stadtteil Neukölln in Berlin, wo Krüger Fotos, Zeitungsausschnitte, Berichte und sogar ein Fahrrad mit buntem Strickmuster aufbewahrt, das zum Symbol des Projekts geworden ist. Zu den Meilensteinen gehört der Besuch von Königin Camilla aus dem Vereinigten Königreich im Jahr 2023.
Für Krüger geht der Einfluss weit über das praktische Lernen hinaus. „Es geht nicht nur darum, das Fahrradfahren beizubringen, sondern auch darum, die soziale, kulturelle und sogar wirtschaftliche Integration dieser Frauen zu erleichtern“, sagt sie. Es gibt Berichte von Teilnehmerinnen, die Jobs als Lieferantinnen gefunden haben oder alleine mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren.
In den letzten zehn Jahren hat sich die Gründerin hauptsächlich mit Familien befasst, die die Autonomie der Frauen unterstützten. Aber das war nicht immer so. In einigen Fällen musste sie persönlich mit Ehemännern oder Vätern sprechen, um sie davon zu überzeugen, ihren Töchtern die Teilnahme am Unterricht zu erlauben.
Zu Beginn durften Begleitpersonen anwesend sein. Einige Ehemänner kamen zur Unterstützung und brachten ihre Kinder mit. Aber bald wurde klar, dass dies den Prozess störte. „Die Frauen fühlten sich unwohl und die Kinder waren inmitten der Fahrräder gefährdet“, sagt Annette. Das gemischte Zusammenleben schuf eine Atmosphäre der Spannung und Unsicherheit. Deshalb änderte sich die Regel: Ehemänner und Kinder durften nicht mehr am Unterricht teilnehmen.
Sie erinnert sich an einen Fall im Brandenburger Umland, in dem eine Schülerin ihrem Mann sagen musste, dass sie Kuchen für ihre Freundinnen abgeben würde, nur um im Wald trainieren zu können. „Wir haben versucht, sie schnell zu unterrichten, aber wir konnten nicht weitermachen. Der Ehemann und seine Freunde haben alles überwacht.“
Diese Art von Situation ist jedoch in der Minderheit. „Das Fahrrad ist ein Werkzeug der Freiheit. Es ermöglicht es, das Haus zu verlassen, an andere Orte zu gehen, außerhalb der Kontrolle anderer zu sein“, sagt Annette. Für viele bedeutete das erste Mal Fahrradfahren auch, Momente alleine zu erleben, fernab von Kindern und häuslichen Anforderungen.
„Ich kann nicht ändern, was Frauen in Afghanistan, Mexiko oder Gaza passiert“, sagt sie. „Aber ich kann hier etwas tun. Und das ist es, was zählt.“
Team
Rike – Diplom-Volkswirtin mit einem ausgeprägten Interesse an internationalen Wirtschaftsbeziehungen und gesellschaftlichen Entwicklungen.
Christian – Diplom-Finanzwirt (FH) mit fundierter Erfahrung im öffentlichen Sektor und einem Fokus auf finanzpolitische Analysen.
Obwohl wir in vielen Fragen unterschiedliche Perspektiven einnehmen, teilen wir die Überzeugung, dass ein umfassendes Verständnis globaler Ereignisse nur durch die Betrachtung vielfältiger Standpunkte möglich ist.